JAHRESKREIS
11. WOCHE - DIENSTAG
41
heilig
werden wollen
Die
Herzmitte von Christi Botschaft.
Der Ort unserer Heiligung.
Nicht aus uns selber.
I. »Durch
alle Worte der Heiligen Schrift sagt Gott nur ein Wort: sein eingeborenes Wort,
in dem er sich selber ganz aussagt.«1 Im heutigen Evangelium, verkündet das
eingeborene Wort die Herzmitte seiner Botschaft: Ihr sollt also vollkommen sein,
wie es auch euer himmlischer Vater ist. Dieses Wie begegnet uns mehr Evangelium,
bezogen auf den Vater oder auf Jesus: Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig
ist3. Liebet einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander
lieben.4 »Es wäre nicht möglich, das Gebot des Herrn zu befolgen, wenn es sich
darum handelte, das göttliche Vorbild äußerlich nachzuahmen. Es handelt sich
aber um eine lebendige, >aus der Tiefe des Herzens< kommende Teilnahme an der
Heiligkeit, an der Barmherzigkeit und an der Liebe unseres Gottes.«5 Der Herr
verkündet nichts Unmögliches; was er fordert, ist nicht die moralische
Anstrengung aus bloßer natürlicher Lebenskraft, sondern eine dem Leben in ihm6
entsprechende Gesinnung, die möglich wird, wenn wir aus dem Geist leben7. »Das
ist wahrhaftig keine >Ethik< mehr - eine Ethik, die das forderte, wäre Frevel -,
sondern Glaube, Sich-Hingeben an eine Forderung, die zugleich Fülle der Gnade
sein muß, weil dergleichen aus Menschenkraft nicht möglich ist.«8
Die
Aufforderung Jesu zur Heiligkeit richtet sich nicht nur an die kleine Gruppe
seiner Jünger, sondern an jeden. Der Evangelist merkt an, wie alle - die Menge -
sehr betroffen von seiner Lehre waren9. Unter seinen Zuhörern sind Männer und
Frauen, Handwerker und Gelehrte, Junge und Alte, Zöllner, Bettler, Kranke. Viele
werden das Wort des Herrn »mitgenommen« haben, als sie zu ihrer Arbeit, zu ihrem
Zuhause, zu ihren Aufgaben in der Welt zurückkehrten. Und dort wird dieses Wort
weitergewirkt haben.
Die
Kirche verkündet durch die Jahrhunderte die Aufforderung und den Auftrag Christi
zur Heiligkeit: »Daher sind in der Kirche alle, mögen sie zur Hierarchie gehören
oder von ihr geleitet werden, zur Heiligkeit berufen gemäß dem Apostelwort: >Das
ist der Wille Gottes, eure Heiligung< (1 Thess 4,3)«10. »Jedem ist also klar,
daß alle Christgläubigen, jeglichen Standes oder Ranges zur Fülle des
christlichen Lebens und zur vollkommenen Liebe berufen sind.«11
Uns selbst, unseren Nachbarn,
Arbeitskollegen, Kommilitonen sagt Christus: Seid vollkommen ... Er ruft uns zu
einer Liebe auf, die alles Mittelmäßige und Träge ablegen soll. Lieben ist die
Urkraft des menschlichen Herzens, keine spezielle Begabung oder »Leistung« die
nur einigen wenigen möglich wäre. Alle können lieben. Und Heiligwerden ist eine
Frage der Liebe, des sehnsüchtigen Wunsches, mit Hilfe der Gnade zum Meister zu
gelangen. Ein Liebender vermag die Mühen und Unerquicklichkeiten des Alltags mit
anderen »ugen zu sehen. Sie erhalten einen neuen, einen übernatürlichen Sinn.
Heiligkeit bedeutet, mit dieser entschiedenen Liebe zu Gott jenseits
einschläfernder Selbstzufriedenheit die Kraft zum Heroismus im Kleinen und
Alltäglichen zu finden.
Heilig
werden wollen ist die praktische Antwort auf die Bitte, die wir so oft im
Vaterunser aussprechen: Geheiligt werde dein Name. Der heilige Cyprian von
Karthago schreibt Mitte des dritten Jahrhunderts: »Wie groß ist die
Barmherzigkeit des Herrn, wie groß seine Huld und Güte! (...) Wir bitten Gott,
daß sein Name in uns geheiligt wird. Von wem sollte Gott auch geheiligt werden,
da doch er es ist, der heiligt? Aber weil er gesagt hat: >Seid heilig, denn ich
bin heilig<, bitten wir inständig, daß wir, durch die Taufe geheiligt, in dem
heiligen Leben verharren, das wir angefangen haben. Darum beten wir jeden Tag;
denn wir brauchen eine tägliche Heiligung.«12
II. Die
Heiligkeit, die der Herr von uns erwartet, ist möglich, wenn wir mit ihm - dem
Weinstock - verbunden sind. Von da her erhalten wir Kraft und erkennen, daß die
Prüfungen und Nöte des Lebens uns läutern: Jede Rebe, die Frucht bringt, reinigt
er, damit sie mehr Frucht bringt13. Leid und Schmerz werden so zu Heimsuchungen
im tieferen Sinne des Wortes - zu Gnadengaben, die uns auf dem Weg zur
Heiligkeit voranbringen.
Vielleicht ist der Ruf Gottes zur Hingabe an seinen Willen - zur Heiligkeit -
inmitten einer schmerzlichen Situation einmal deutlicher als sonst vernehmbar.
Eigentlich aber ist jede Situation im Leben des Menschen geeignet, Gott inniger
zu lieben. Das innere Leben nährt sich aus den ganz gewöhnlichen Gegebenheiten
eines jeden Tages, ähnlich wie eine Pflanze aus dem Erdreich, in dem sie steht.
Der Sämann oder der Wind haben den Samen dorthin gebracht, wo er keimen und
wachsen wird. Dort holt sich der Samen alles, was er braucht: Luft und
Feuchtigkeit, Nährstoffe aus der Erde. Sie entwickelt allmählich ihre eigene
Gestalt.
Gott,
unser Vater, hat das Erdreich ausgesucht, er gibt die Gnade, damit wir Frucht
bringen können. Worin besteht dieses Erdreich? Wir haben es so oft betrachtet,
daß wir vielleicht schon ein wenig müde davon sind - und doch: ertappen wir uns
nicht immer wieder dabei, wie uns gedankenlos die ganz konkrete tägliche
Wirklichkeit abhanden kommt, wie wir zig Chancen verpaßen, daß die Gnade Gottes
wirksam wird in unserem Umgang mit konkreten Menschen, die diese Tugenden und
jene Untugenden haben? In unserer Arbeit mit allem, was sie an Angenehmem und
Unangenehmem mit sich bringt? Dies alles ist unser Umfeld, das Erdreich, der
Ort, an dem wir nach dem Willen des Herrn wie ganze Christen leben sollen.
Gott ruft
zur Heiligkeit in jeder Lage: in Krankheit und Gesundheit, in Erfolg und
Mißerfolg, in der Freizeit wie mitten in der Hektik einer aufreibenden Arbeit.
In Christus hat der ewige Gott unsere Zeit - jegliche Zeit - geheiligt und
heiligungsfähig gemacht. Jeder Augenblick unseres Lebens nimmt am ewigen Heute
Gottes teil. Denn »Ewigkeit ist nicht das Uralte, das vor der Zeit war, sondern
sie ist das ganz andere, das zu jeder vorübergehenden Zeit sich als ihr Heute
verhält, ihr wirklich heutig ist. (...) Sie ist nicht Zeitlosigkeit, sondern
Zeitmächtigkeit. Als das Heute, das allen Zeiten gleichzeitig ist, kann sie auch
in jede Zeit hineinwirken«14.
Das Heute
Gottes umfaßt all unsere »Zeiten« Nur wer aus einer rein natürlichen
Perspektive, ohne das Licht der Gnade, die Wirklichkeit sieht, wird sagen: Jetzt
ist nicht die richtige Zeit, der rechte Augenblick für Heiligkeit. Der selige
Josemaría Escrivá warnt vor dieser Versuchung mit dem Worts»iel, jedes ojalá
(»wenn ich doch« sei hojalata, »Blech« nur ein billiges, vorgetäuschtes Argument
also: »Laßt falschen Idealismus, Träume und Phantastereien beiseite, laßt
beiseite alles, was ich Blechmystik zu nennen pflege: wenn ich doch ledig
geblieben wäre, wenn ich doch einen anderen Beruf gewählt hätte, wenn ich doch
eine bessere Gesundheit besäße, wenn ich noch jung wäre, wenn ich doch schon alt
wäre ...! Haltet euch vielmehr nüchtern an die ganz materielle und unmittelbare
Wirklichkeit, denn dort ist der Herr.«15
III.
Betrachten wir unser Leben aus der Sicht des nur Natürlichen, könnten wir
meinen, manche Augenblicke oder Situationen, die uns so restlos vereinnahmen, ja
überfordern, dispensierten uns gleichsam davon, sie zu heiligen: eine Prüfung,
die uns so ganz in Anspruch nimmt, der Haushalt, der uns über den Kopf wächst,
eine literarische Arbeit, die sich in die Länge zieht und unsere schöpferischen
Kräfte auslaugt, eine knifflige, langwierige Tätigkeit, die uns entnervt und
reizbar macht.
Doch
unterschätzen wir nicht unsere Fähigkeit, mit Gottes Gnade Grenzen zu sprengen.
Das heißt nicht, wie die selige Edith Stein schreibt, daß unser Ich »aus sich
selbst heraus zu Kraftleistungen über seine Natur hinaus fähig wäre. Damit würde
man ihm eine Schöpferkraft zusprechen, wie sie kein Geschöpf besitzen kann. Wird
es über seine natürliche Kraft hinaus verpflichtet, so kann das nur den Sinn
haben, daß es sich auf eine Kraftquelle außerhalb seiner Natur stützen könne.
Der Glaube gibt die Antwort darauf, wo diese Kraftquelle zu suchen sei. Gott
verlangt nichts vom Menschen, ohne ihm zugleich die Kraft dazu zu geben. Der
Glaube lehrt es, und die Erfahrung des Lebens aus dem Glauben bestätigt es. Das
Innerste der Seele ist ein Gefäß, in das der Geist Gottes (das Gnadenleben)
einströmt, wenn sie sich ihm kraft ihrer Freiheit öffnet. Und Gottes Geist ist
Sinn und Kraft. Er gibt der Seele neues Leben und befähigt sie zu Leistungen,
denen sie ihrer Natur nach nicht gewachsen wäre, und er weist zugleich ihrem Tun
die Richtung. Im Grunde ist jede sinnvolle Forderung, die mit verpflichtender
Kraft vor die Seele tritt, ein Wort Gottes. Es gibt ja keinen Sinn, der nicht im
Logos seine ewige Heimat hätte. Und wer ein solches Wort Gottes bereitwillig in
sich aufnimmt, der empfängt eben damit die göttliche Kraft, ihm zu
entsprechen.«16
Gerade in
Engpässen sollen wir deshalb das persönliche Gebet um so eifriger pflegen, den
Herrn im Tabernakel aufsuchen, die Muttergottes herzlicher anrufen, unsere
Schutzheiligen bestürmen.
Auch im
Apostolat dürfen wir nicht auf die »günstigste Gelegenheit« warten wollen, die
wir uns phantastisch ausmalen und die sich doch niemals so ergibt. Die ersten
Christen begannen apostolisch zu arbeiten, ehe die Situation günstig war. Sie
wurde schließlich günstig, weil sie zu arbeiten begonnen hatten.
Mit Hilfe
der Gnade erhalten die natürlichen Tugenden der Beständigkeit, Geduld, Ausdauer
und Hochherzigkeit eine ganz neue Kraft: Macht eure Herzen stark, denn die
Ankunft des Herrn steht nahe bevor17.
Unsere
Liebe Frau möge uns die Entschlossenheit erwirken, hier und jetzt nach
Heiligkeit zu streben.
1
Katechismus der Katholischen Kirche, 102. - 2 Mt 5,43-48. - 3 Lk 6,36. - 4 Joh
13,34. - 5 Katechismus der Katholischen Kirche, 2842. - 6 vgl. Phil 2,5. - 7 Gal
5,25. - 8 R.Guardini, Der Herr, Würzburg 1951, S.93. - 9 Mt 7,28. - 10
II.Vat.Konz., Konst. Lumen gentium, 39. - 11 ebd., 40. - 12 Cyprian von
Karthago, Über das Gebet des Herrn. - 13 Joh 15,2. - 14 J.Ratzinger, Einführung
in das Christentum, München 1968, S.263. - 15 Gespräche mit Msgr.Escrivá de
Balaguer, 116. - 16 Edith Stein, Im verschlossenen Garten der Seele, Freiburg
1987, S.98. - 17 Jak 5,78.