JAHRESKREIS
15. WOCHE - SAMSTAG
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Das
geknickte Rohr und der glimmende docht
Zwei
messianische Wesenszüge.
Arzt und guter Hirt.
Verständnis und Vergebung.
I. Wir
hören im heutigen Evangelium1 zum erstenmal vom Vorhaben der Pharisäer, Jesus zu
beseitigen. Als Jesus das erfuhr, ging er von dort weg, heißt es. Seine Zeit war
noch nicht gekommen: Viele folgten ihm, und er heilte alle Kranken. Matthäus
geht nicht auf die Einzelheiten dieser Heilungen ein, sondern erwähnt sie nur
beiläufig, weil er diesmal einen anderen Zug im Wirken des Herrn hervorheben
will: Er verbot ihnen, in der Öffentlichkeit von ihm zu reden. Wir kennen schon
den sachlichen Grund für die Zurückhaltung Jesu: er wollte vermeiden, daß seine
Sendung überlagert würde von diesseitigen Vorstellungen im Volk vom erwarteten
Messias. Aber der inspirierte Verfasser erblickt darin einen weiteren
messianischen Zug. In der Weissagung des Jesaja über den Knecht Jahwes erscheint
der Erwählte Jahwes auch in der Gestalt eines Schweigsamen: er schreit nicht und
lärmt nicht und läßt seine Stimme nicht auf der Straße erschallen2. Tatsächlich
ließ Jesus sich nicht vom Lärm des Volkes, von Lob oder Tadel, beeindrucken.
Nicht die Launen der Menge bestimmten seine Handlungsweise, sondern einzig der
Wille des Vaters. Welcher Kontrast zu den Widersachern des Herrn!
Jesaja
erwähnt dann einen weiteren messianischen Zug, den wir in die Mitte unseres
Gebetes stellen wollen: Das geknickte Rohr zerbricht er nicht, und den
glimmenden Docht löscht er nicht aus. Das Wort ist - wie stets bei der
prophetischen Rede - bildhaft und mehrdeutig. Als Gott Mensch wird und Jesus zu
predigen beginnt, erhält das Bild Konturen: der Messias ist kein Herrscher,
sondern ein Knecht, kein Schreier, sondern ein Schweigsamer. Und er ist geduldig
und barmherzig jenen gegenüber, die das Leben geknickt, die es verwundet hat. Er
gibt den Gebeugten Kraft, sich aufzurichten; er löscht den glimmenden Docht
nicht aus, sondern entfacht die Flamme.
In
unserer Zeit lecken sich viele Menschen enttäuscht ihre Wunden, weil sie
falschen Versprechungen geglaubt haben, irrlichternden Idealen nachgelaufen
sind. Der Christ weiß, daß jedes Streben nach Güte und Gerechtigkeit ohne
Christus fragwürdig bleiben muß. In der Kraft Christi können sie indes viele
Gutwillige wieder aufrichten, die Opfer zusammengebrochener Ideologien geworden
sind, Opfer von schillernden »Worten der Menschen« wie die Dichterin klagt: »Wer
errettet meine Seele vor den Worten der Menschen? Sie tönen aus der Ferne wie
Posaunen, aber wenn sie nahe kommen, tragen sie nur Schellen. Sie drängen sich
hervor mit Fahnen und Wimpeln, aber wenn der Wind aufsteht, zerflattert ihr
Gepränge.«3
Wieviel
mißbrauchtes Gerechtigkeitsstreben, wieviele zerbrochene Ideale, weil man sich
auf bloße Menschenworte verlassen hatte! Die Folgen: ohnmächtiger Zorn,
Resignation, Verzweiflung - lauter Sackgassen: »Wir sind verdurstet bei euren
Quellen, wir sind verhungert bei eurer Speise, wir sind blind geworden bei euren
Lampen«»Wie anders ist es bei Jesus! Der Samariterin verspricht er eine
sprudelnde Quelle, deren Wasser ewiges Leben schenkt4, seinen Jüngern eine
Speise, die für das ewige Leben bleibt5, und zum nächtlichen Besucher spricht er
von einem Licht, das in die Welt kam6.
II. Jesus
»ist gekommen, den ganzen Menschen - Seele und Leib - zu heilen. Er ist der
Arzt, den die Kranken nötig haben.«7 Im Unterschied zu irdischen Ärzten kennt er
jedoch die Ohnmacht dessen nicht, der von einem bestimmten Augenblick an
vergeblich um das Leben des Kranken ringt. Er kam ja, zu suchen und zu retten,
was verloren war. Der Herr hat die Macht, jeden aufzurichten, der ihn aufsucht -
selbst aus dem Abgrund der Sünde. Maria von Magdala, der Schächer am Kreuz, die
Ehebrecherin... Sie alle bezeugen die Heilkraft Jesu. Und auch Petrus in jener
traurigen Nacht, als er seinen Meister verleugnete. Bald danach richtete ihn der
Herr wieder auf mit der schlichten Frage: Simon, Sohn des Johannes, liebst du
mich?8
Das
geknickte Rohr zerbricht er nicht, und den glimmenden Docht löscht er nicht aus.
Das stille Erbarmen ist Kennzeichen Jesu, im Gegensatz zu jenen, die lauthals
Menschlichkeit und Gerechtigkeit predigen. »Es ist ein gefährlicher Irrtum, zu
meinen, daß Menschlichkeit durch Reden über Menschlichkeit herbeigeführt werden
kann. Wahre Menschlichkeit entzündet sich an der Betrachtung des göttlichen
Erbarmens mit uns Menschen, insbesondere an der Betrachtung des Lebens und
Sterbens Jesu Christi, der die menschgewordene Liebe des Vaters ist. Wer
Christus sieht, sieht den Vater (vgl. Joh 4,9). Wer seine Lebens- und
Todeswunden betrachtet, kann ermessen, was wir Gott wert sind.«9
Jesu
Erbarmen gegenüber den Menschen trägt die Züge des guten Hirten. Er ruft die
Schafe, die ihm gehören, einzeln beim Namen.10 Er hört auch dann nicht zu rufen
auf, wenn ihm Undank, Widerspruch oder Haß entgegenschlagen. Mit einer Liebe,
die niemanden ausschließt, will er jeden einzelnen zum ewigen Leben geleiten.
Wendet einer sich von ihm ab, eilt er ihm zu Hilfe, damit er umkehrt. Wird ein
Leidender an ihm irre, zeigt er ihm die Wundmale seiner Passion: »Nie verliert
er den Mut; nie wird er müde oder enttäuscht. Sein Herz, das fühlendste und
wissendste, das je geschlagen, ist stärker als alles Menschenleid.«11
Zu denen,
die von der Sünde gebeugt wurden, sagt er: Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt
und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen.12 Niemand
liebt uns mehr als Christus. »Unendlich sind die Bereitschaft und die Macht der
Vergebung, die unablässig aus dem wunderbaren Wert des Opfers des Sohnes
hervorgehen. Keine menschliche Sünde kann diese Macht bezwingen oder auch nur
einschränken. Von seiten des Menschen kann sie nur der Mangel an gutem Willen,
der Mangel an Bereitschaft zur Bekehrung und zur Buße, also die hartnäckige
Verstockung einschränken, die sich der Gnade und der Wahrheit widersetzt,
besonders vor dem Zeugnis des Kreuzes und der Auferstehung Christi.«13
Gott will
uns heilig. Deshalb steht seine Vaterliebe im Dienste seiner Barmherzigkeit.
Wenn wir auf unser Elend schauen, dann nicht resignierend, sondern hoffend. Es
hat keinen Sinn zu klagen: »Warum weiter kämpfen, wenn ich sehe, was ich alles
gesündigt habe und wie oft ich den Herrn enttäuscht habe.= Nein: wir dürfen auf
die Liebe und die Macht unseres Vater-Gottes vertrauen und auf seinen Sohn, den
er in die Welt gesandt hat, um uns zu erlösen und zu stärken. Wie wohltuend,
sich so sehen zu dürfen: als geknicktes Rohr, das sich aufrichten kann, als
limmender Docht, der wieder aufleuchten wird!
III. Und
auf seinen Namen werden die Völker ihre Hoffnung setzen14 - auf den Gottmenschen
also, der die Liebe ist: »Überströmende, unbedürftige, frei sich verschenkende
Liebe: Liebe, die sich erbarmend zu jedem bedürftigen Wesen herabneigt; Liebe,
die Krankes heilt und Totes zum Leben erweckt; Liebe, die hütet und hegt,
ernährt, lehrt und bildet; Liebe, die mit den Trauernden trauert und mit den
Fröhlichen fröhlich ist; die jedem Wesen dienstbar wird, damit es das werde,
wozu es der Vater bestimmt hat; mit einem Wort: die Liebe des göttlichen
Herzens.«15
Das
erbarmende Herz Jesu öffnet sich jedem; er »geht zu den Ausgeschlossenen und
Ehrlosen, weil sie geächtet sind und niemand ihnen in ihrer Not hilft. Er tritt
in ihre Gemeinschaft; nicht weil er dekadent wäre und es ihn zu den brüchig
Gewordenen zöge, sondern weil er aus göttlicher Freiheit heraus die Macht hat,
alle anzureden. Die Armen und in dieser Welt Verlorenen, indem er sie einfachhin
als Menschen nimmt und ihnen die Gottesbotschaft verkündet - die Angesehenen,
indem er ihnen zum Bewußtsein bringt, daß sie sich sehr falsch einschätzen und
in Gefahr stehen, ihr Heil zu verlieren.«16
Christi
weit geöffnetes Herz soll unser Verständnis für die Schwankenden und Ermüdeten
wecken. Wenn sie unsere Freunde sind, kann die Freundschaft zur Brücke für eine
Begegnung mit Gott werden, die Orientierungslosigkeit sich in freudige Hoffnung
verwandeln, Elend und Tugend zur Chance für Demut und Dank werden. Mit anderen
Worten: »Um Christi willen den anderen zu dienen, erfordert von uns, sehr
menschlich zu sein. (...) Wir müssen Verständnis für alle haben, mit allen
zusammenleben, alle entschuldigen, allen verzeihen können. Wir werden uns nicht
dazu hergeben, das Ungerechte gerecht oder das Schlechte gut zu nennen, die
Beleidigungen Gottes zu beschönigen. Aber wir werden das Böse nicht mit Bösem
erwidern, sondern mit der klaren Lehre und der guten Tat: indem wir es im
Überfluß des Guten ersticken (vgl. Röm 12,21). So wird Christus in unseren
Seelen herrschen und in den Seelen derer, mit denen wir zusammenleben.«17
Das
Erbarmen des Herrn verwischt die Maßstäbe von Gut und Böse, Sünde und Tugend
nicht. Zur Ehebrecherin sagt er: Hat dich keiner verurteilt? (...) Auch ich
verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!18 »Ein Jesus,
der mit allem und allen einverstanden ist, ein Jesus ohne seinen heiligen Zorn,
ohne die Härte der Wahrheit und der wahren Liebe ist nicht der wahre Jesus, wie
ihn die Schrift zeigt, sondern eine erbärmliche Karikatur. Eine Vorstellung von
>Evangelium<, bei der es den Ernst von Gottes Zorn nicht mehr gibt, hat mit dem
biblischen Evangelium nichts zu tun. Wahre Vergebung ist etwas ganz anderes als
schwächliches Gewährenlassen. Vergebung ist anspruchsvoll und fordert beide, den
Vergebenden und den, der Vergebung empfängt, in ihrem ganzen Sein. Ein Jesus,
der alles billigt, ist ein Jesus ohne das Kreuz, denn die Mühsal des Kreuzes
braucht es ja dann nicht, um den Menschen zu heilen.= 19 Jesus billigt nicht
alles, was Menschen tun - aber er billigt den Menschen, weil er Mensch ist; und
er billigt ihn so, wie er ist: arm oder reich, krank oder gesund, unwissend oder
gebildet - immer Sünder, immer Ebenbild Gottes, immer zur Gemeinschaft it Gott
im Himmel berufen.
Am Ende
unserer Betrachtung wenden wir uns jener zu, die am tiefsten das Geheimnis des
göttlichen Erbarmens kennt: Mater misericordiae, Mutter des Erbarmens, bitte für
uns!
1 Mt
12,14-21. - 2 Jes 42,1-3. - 3 Gertrud von le Fort, Hymnen an die Kirche, VII. -
4 Joh 4,14. - 5 Joh 6,27. - 6 Joh 3,19. - 7 Katechismus der Katholischen Kirche,
1503. - 8 Joh 21,16. - 9 J. Wanke, Last und Chance des Christseins, Leipzig
1992, S. 81. - 10 Joh 10,3. - 11 R. Guardini, Der Herr, Würzburg 1951, S. 53. -
12 Mt 11,24. - 13 Johannes Paul II., Enz. Dives in misericordia, 13. - 14 Mt
12,21. - 15 Edith Stein, Im verschlossenen Garten der Seele, Freiburg 1987, S.
79. - 16 R. Guardini, a.a.O., S. 63. - 17 J. Escrivá, Christus begegnen, 182. -
18 Joh 8,10-11. - 19 J. Kard. Ratzinger, Auf Christus schauen, Freiburg 1989, S.
94.