Jahreskreis
22. Woche - Dienstag
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Das
Evangelium Jesu Christi
Persönlicher Umgang mit Christus.
Im Evangelium zu Hause sein.
Gottes Wort in unserem Leben.
I. Am
Anfang und am Ende des heutigen Evangeliums1
berichtet Lukas von den Reaktionen der Menschen um Jesus:
Sie waren sehr betroffen von seiner
Lehre, denn er redete mit göttlicher Vollmacht (...). Da waren alle erstaunt und
erschrocken, und einer fragte den anderen: Was ist das für ein Wort? Mit
Vollmacht und Kraft befiehlt er den unreinen Geistern und sie fliehen.
Es beeindruckt sie, daß er
nicht wie die Schriftgelehrten2
lehrt, sondern mit seiner ganzen Person.
Unser
christlicher Glaube ist »nicht etwa eine Weltanschauung mit religiösem
Hintergrund, auch nicht ein religiöses oder theologisches Lehrsystem oder
Moralgesetz, sondern es ist Mysterium im paulinischen Sinn, das heißt eine
Offenbarung Gottes an die Menschheit durch gottmenschliche Taten, voll Leben und
Kraft= 3. Mysterium - und doch Umgang mit einer Person, mit dem Sohn Gottes, der
durch seine Menschwerdung faßbar, berührbar, hörbar geworden ist. Der Apostel
Johannes scheint das Reale dieser Beziehung bekräftigen zu wollen, indem er
sinnenhafte Ausdrücke gleicsam anhäuft:
Was von Anfang an war, was wir gehört
haben, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir geschaut und was unsere Hände
angefaßt haben, das verkünden wir; wir haben gesehen und bezeugen und verkünden
euch das ewige Leben, das beim Vater war und uns offenbart wurde. Was wir
gesehen und gehört haben, das verkünden wir auch euch, damit auch ihr
Gemeinschaft mit uns habt.4
Auch Lukas betont am Anfang seines Evangeliums5,
daß er Reales berichtet:
was sich unter uns ereignet und
erfüllt hat. Er nimmt sich vor,
allem von Grund auf sorgfältig
nachzugehen und
es der Reihe nach aufzuschreiben.
Deshalb hat die Kirche »am apostolischen Ursprung der vier Evangelien (...)
immer und überall festgehalten und hält daran fest; denn was die Apostel nach
Christi Gebot gepredigt haben, das haben später unter dem Anhauch des Heiligen
Geistes sie selbst und Apostolische Männer uns als Fundament des Glaubens
schriftlich überliefert: das viergestaltige Evangelium nach Matthäus, Markus,
Lukas und Johannes.«6
Die
Zuhörer Jesu waren
betroffen, erstaunt, erschrocken.
Noch konnten sie sich abwartend verhalten. Anders dagegen die Jünger. Nach
einiger Zeit müssen sie Stellung nehmen:
7
Die Antwort des Petrus kommt aus dem lebendigen Glauben. Auch wir, Jünger Jesu
in unserer Zeit, müssen in die Schule der ersten Jünger gehen, die zu seinen
Zeugen und für uns zu Lehrern wurden: wir müssen »die Erfahrung und das Zeugnis
von fast zwanzig Jahrhunderten Geschichte annehmen, in denen die Frage des
Meisters ihre Furchen gezogen hat und aus denen ein großer Reichtum an Antworten
aus der unermeßlichen Schar der Gläubigen aller Zeiten und Orte hervorgegangen
ist. Heute hat uns der Geist,
der Herr ist und lebendig macht,
bereits nahe an die Schwelle des dritten christlichen Jahrtausends herangeführt,
und wir sind aufgerufen, mit neuer Freude die Antwort zu geben, zu der Gott uns
anregt und die er von uns erwartet, gewissermaßen wie für eine neue Geburt Jesu
Christi in unserer Geschichte.«8
An frühen
christlichen Sarkophagen kann man eine Gestalt finden, die an einen antiken
Philosophen erinnert, aber in der Hand das Evangelium, das Buch der lebendigen
Wahrheit trägt. Ein allgemeines Wissen über Christus soll uns nicht genügen.
Auch eine tiefergehende Kenntnis wäre zu wenig heute, da »sich um Christus, auch
bei den Christen, oft Schatten der Unwissenheit ausbreiten oder, was noch
schlimmer ist, Schatten des Mißverstehens, wenn nicht gar des Unglaubens. Es
besteht immer Gefahr, sich auf das >Evangelium Jesu< zu berufen, ohne dessen
Größe und Radikalität zu erkennen und ohne das zu leben, was man mit Worten
bekennt. Wie viele gibt es, die das Evangelium auf ihr eigenes Maß herabmindern
und sich einen bequemeren Jesus zurechtmachen; die seine göttliche Transzendenz
leugnen oder aber sein wirkliches, geschichtliches Menschsein; wie viele auch,
die die Vollständigkeit seiner Botschaft manipulieren, vor allem nicht sein
Kreuzesopfer, das sein Leben und seine Lehre beherrscht, berücksichtigen, noch
die Kirche, die er als sein >Sakrament< in der Geschichte eingesetzt hat.«9
Sicherlich kennen wir solche Reaktionen; da reichen weder Betroffenheit noch
gelehrtes Wissen aus: es muß Zeugenschaft sein.
II. Alles
im Alten Testament war auf Christus hingeordnet, und alle Bücher im Neuen
Testament gehen von Christus aus. Deshalb lehrt die Kirche, »daß unter allen
Schriften, auch unter denen des Neuen Bundes, den Evangelien mit Recht ein
Vorrang zukommt. Denn sie sind das Hauptzeugnis für Leben und Lehre des
fleischgewordenen Wortes, unseres Erlösers.«11 Besonders von den Evangelien
gilt, was in der Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils über die
göttliche Offenbarung steht: »In den Heiligen Büchern kommt ja der Vater, der im
Himmel ist, seinen Kindern in Liebe entgegen und nimmt mit ihnen das Gespräch
auf.«12 Deshalb ermahnt das Konzil alle Christgläubigen, »besonders
eindringlich, durch das häufige Lesen der Heiligen Schrift sich das >alles
übertreffende Wissen Jesu Christi< (Phil
3,8) anzueignen. >Die Schrift nicht kennen heißt Christus nicht kennen<
(Hieronymus). Sie sollen deshalb gern an den heiligen Text selbst herantreten,
einmal in der mit göttlichen Worten gesättigten heiligen Liturgie, dann in
frommer Lesung. (...) Sie sollen daran denken, daß Gebet die Lesung der Heiligen
Schrift begleiten muß, damit sie zu einem Gespräch werde zwischen Gott und
Mensch.«13 Es soll eine Lektüre voll glaubender, liebender, betender Anteilnahme
sein. Die Kirche hat das Evangelium als »Seelenspeise und reinen, unversiegelten
Quell des geistlichen Lebens«14 unter dem Beistand des Heiligen Geistes
unversehrt durch diejahrhunderte weitergegeben, damit wir darin Weisung für
unseren Lebensweg finden.
Nötig ist
eine Kenntnis, die wir engagiert nennen könnten: »Es genügt nicht, ein
allgemeines Bild von Christus zu haben, wir müssen vielmehr aus seiner Haltung
und seinen Reaktionen lernen. Und vor allem müssen wir seinen Erdenwandel
betrachten und seinen Spuren nachgehen, um Kraft, Licht, Gelassenheit und
Frieden daraus zu schöpfen.
Wenn man
einen Menschen liebt, möchte man alles, selbst die kleinsten Details über ihn
wissen, um sich mit ihm identifizieren zu können. Darum müssen wir die
Lebensgeschichte Jesu betrachten, von der Geburt in einer Krippe bis zu seinem
Tod und seiner Auferstehung.«15
Nur einen
Menschen, den man gut kennt, kann man lieben. Deshalb ist es nötig, das Leben
Christi »ganz im Kopf und im Herzen zu tragen, damit wir es in jedem Augenblick
ohne Hilfe eines Buches mit geschlossenen Augen vor unserem inneren Blick wie
einen Film vorbeiziehen lassen können. Die Worte und Taten des Herrn werden uns
auf diese Weise in den verschiedenen Situationen unseres Lebens begleiten.
So werden
wir sein Leben mitleben. Denn es geht nicht nur darum, an Jesus zu denken, uns
diese oder jene Szene zu vergegenwärtigen. Wir müssen uns vielmehr in sie
hineinversetzen, und als Teilnehmer des Geschehens werden wir dann Christus so
nahe folgen wie Maria, seine Mutter, wie die ersten Zwölf, wie die frommen
Frauen und die Menge, die ihn umdrängte.«15 Dann erfährt man das ganze Leben
Christi als eine beständige Lehre: »Die Momente seines Schweigens, seine Wunder,
seine Taten, sein Beten, seine Liebe zum Menschen, seine Vorliebe für die Armen
und Kleinen, die Annahme des letzten Opfers für die Erlösung der Welt am Kreuz
und seine Auferstehung: dies alles macht sein Wort wirklich und wahr und
vollendet seine Offenbarung (...). All diese Überlegungen (...) sollen in uns
die Begeisterung für Christus kräftigen, für den Meister, der den Menschen
offenbart, wer Gott ist, und auch, wer der Mensch ist; für den Meister, der
rettet, heiligt und führt, der lebt, spricht, aufrüttelt und erschüttert,
zurechtweist, richtet und verzeiht, der täglich den Weg durch die Geschichte mit
uns geht; für den Meister, der kommt und kommen wird in Herrlichkeit.«16
Wir schlagen das Evangelium mit dem
Wunsch auf, Christus sehr aufmerksam, wie seine Jünger damals, zu betrachten:
wie er in dieser oder jener Situation reagierte, warum er mit diesem Menschen so
und mit jenem anderen anders sprach, wie er sich der Bedürftigen und
Notleidenden erbarmte, wie er sich nach langer Wanderung müde fühlte und unter
Freunden Erholung suchte, wie er den Glauben einfacher Menschen pries, wie er
geduldig die Schwerfälligkeiten seiner Jünger ertrug. Und immer wieder werden
wir beobachten, wie er tagsüber und nächtelang das Gespräch mit dem Vater sucht,
dankend, vertrauend, bittend. Wir lernen so den Umgang mit Gott und mit den
Menschen und entdecken in den Bildern des Evangeliums uns selbst: als Arbeiter
im Weinberg und als Knechte auf dem Acker des Herrn, als Hirten, Bauern und
Stadtmenschen, denn das alles sind wir in den Gleichnissen.
III.
Viele Male und
auf vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern gesprochen durch die Propheten;
in dieser Endzeit hat er zu uns gesprochen durch den Sohn.17
Seitdem der Sohn gesprochen hat, steht jede Stunde der Menschheitsgeschichte im
Zeichen der Endzeit, der Vollendung - auch jede Stunde meines Lebens. Das ist
der Kern der Frohen Botschaft. Das Wort des Sohnes bleibt aktuell:
kraftvoll und
schärfer als jedes zweischneidige Schwert; es dringt durch bis zur Scheidung von
Seele und Geist, von Gelenk und Mark; es richtet über die Regungen und Gedanken
des Herzens18.
Es ist wahres
Licht, das jeden Menschen erleuchtet19.
»Das Wort Gottes ist unerschöpflich, es ist nie ausgelotet, nie ausgelitten und
nie ausgedacht; jede Zeit eröffnet neue Wege in es hinein, so daß es in jeder
Zeit Gegenwart ist, in der Gott hier und heute zu uns spricht.«20
»Ich habe
dir geraten, jeden Tag einige Minuten im Neuen Testament zu lesen und dich,
gleichsam selbst beteiligt, in jede der einzelnen Szenen hineinzuversetzen. Auf
diese Weise kannst du das Evangelium in deinem Leben sozusagen >Fleisch und
Blut< werden lassen, kannst es erfüllen und auch andere dahin bringen, es zu
erfüllen.«21 Manchmal werden wir uns im verlorenen Sohn, der traurig-froh -zum
Vater heimkehrt, oder im verirrten Schaf, dem die Sorge des Hirten gilt,
wiederfinden. Manchmal wird uns ein Wort oder eine Begebenheit besonders
ansprechen. Und immer werden wir Stoff für unsere festen Gebetszeiten finden,
die so nötig sind, will man mitten in der Welt auf Gott hin leben. »Jeder
Gläubige kann und muß aus den verschiedenen Formen und dem Reichtum des
christlichen Gebetes, wie es die Kirche lehrt, seinen eigenen Weg und seine
eigene Gebetsmethode herausfinden; doch fließen alle diese persönlichen Wege am
Ende in jenen Weg zum Vater zusammen, als der sich Jesus Christus bezeichnet
hat. Beim Suchen nach dem eigenen Weg soll sich der einzelne daher nicht so sehr
von seinem persönlichen Geschmack als vielmehr vom Heiligen Geist leiten lassen,
der ihn durch Christus zum Vater führt.«22
Suchen
wir nach einem passenden Augenblick für die tägliche Lektüre des Evangeliums.
Und dann werden wir es Gott überlassen, wie er durch sein Wort auf unser Leben
einwirken will. Sei es, um einem bestimmten Menschen gegenüber geduldiger zu
sein; sei es, daß wir uns als Kinder Gottes durch nichts den Frieden rauben
lassen; vielleicht stimmt er uns versöhnlicher gegenüber einer kleinen
Beleidigung, stimmt uns auf eine gute Beichte ein oder regt uns an, die Arbeit
gut zu tun. Jeden Tag können wir einen Gedanken und einen Vorsatz finden, an den
wir uns halten. Schritt für Schritt können sich die Worte des seligen Josemaría
Escrivá in unserem Leben bewahrheiten: »Wären doch dein Verhalten und deine
Worte so, daß jeder, der dich sieht oder mit dir spricht, unwillkürlich dächte:
Der da beschäftigt sich mit dem Leben Jesu.«23
Am Anfang
unserer Betrachtung hörten wir von der Betroffenheit der Leute - zu wenig für
einen Jünger des Herrn, sagten wir. Merken wir uns am Ende ein anderes
Kennzeichen, das Lukas betont: die Freude. »Wo Jesus in die Nähe kommt, da
entsteht Freude. Lukas, der Evangelist, der sein Evangelium und die
Apostelgeschichte so bedachtsam komponiert hat, hat diesen Faden nicht aus dem
Auge verloren. Der letzte Satz des Evangeliums sagt uns nämlich: Als die Jünger
den Herrn hatten auffahren sehen, da gingen sie weg, das Herz voll Freude (Lk
24,52). (...) Rein menschlich würden wir erwarten: voll Verwirrung. Nein, wer
den Herrn nicht nur von außen gesehen hat; wer sich sein Herz von ihm berühren
ließ; wer den Gekreuzigten angenommen hat und, eben weil er den Gekreuzigten
angenommen hat, die Gnade der Auferstehung kennt, der muß voller Freude sein.«24
4,31-37. -
vgl.
1,22. -
O. Casel,
Das
christliche Kultmysterium,
Regensburg 1932, S.25. -
1,1-3. -
vgl.
1,1. -
II. Vat. Konz., Konst.
Dei
Verbum,
18. -
16,15. -
Johannes Paul II.,
,
7.1.1987. -
ebd. -
II. Vat. Konz., Konst.
Dei
Verbum,
18. -
ebd., 21. -
ebd., 25. -
ebd. -
J. Escrivá,
Christus
begegnen,
107. -
ebd. -
Johannes Paul II., Apost. Schreiben
Catechesi
tradendae,
16.10.1979, 9. -
1,1. -
4,12. -
1,9. -
J. Ratzinger,
Christlicher Glaube und Europa,
München 1981, S.128. -
J. Escrivá,
Die Spur
des Sämanns,
Nr.672. -
Kongregation für die Glaubenslehre,
Schreiben
über einige Aspekte der christlichen Meditation,
15.10.1989, 29. -
J. Escrivá,
,
Nr.2. -
J. Ratzinger,
Diener
eurer Freude,
Freiburg 1988, S.48-49.