Jahreskreis
22. Woche - Montag
31
Messias
des Erbarmens
An der
Wiege des Evangeliums.
Christus macht Gottes Erbarmen sichtbar.
Gerechtigkeit und Erbarmen.
I.
In jener Zeit
kam Jesus nach Nazaret, wo er aufgewachsen war, und ging, wie gewohnt, am Sabbat
in die Synagoge.1
Wir stehen am Anfang des öffentlichen Wirkens Jesu. Nicht nur der Name Nazaret
führt uns in die Zeit seiner Kindheit und Jugend zurück, als er mit Josef und
Maria aufmerksamer Zuhörer in der Synagoge war; auch die beiläufige Bemerkung:
wie gewohnt
läßt uns fragen, wie die Atmosphäre in dem
kneseth, dem Ort der
Versammlung gewesen sein mag. »In der Tat war die Synagoge, die wir uns
vornehmlich als ein Haus des Gebetes vorstellen, in erster Linie ein Ort der
religiösen Unterweisung. Von einem Kult im eigentlichen Sinne konnte nicht die
Rede sein, da dieser nur im Tempel von Jerusalem dargebracht werden durfte.
(...) Jede Woche gab es einen Tag, an dem man ruhen mußte; an diesem Tage traf
man sich in einer religiösen Versammlung. (...) Dort, wo - außerhalb Jerusalems
- die Vertreter der Hierarchie fehlten, lag die religiöse Belehrung nicht in der
Hand ganz bestimmter Personen. Ohne Zweifel gab es Leute, die besonders geeignet
waren und mit besonderer Vorliebe gehört wurden, aber der Leiter lud auch gern
einmal einen Israeliten von untadeligem Rufe und guter Kenntnis der Heiligen
Schriften ein, das Wort zu ergreifen, mochte dieser auch nur zufällig des Weges
kommen.«2 Man las aus einer Rolle vor, stehend aus Ehrfurcht vor dem Wort
Gottes: Als er aufstand, um aus der Schrift vorzulesen, reichte man ihm das Buch
des Propheten jesaja. Er schlug das Buch auf.
Jesus
wird die Stelle auf hebräisch vorgelesen und dann in den aramäischen Dialekt
Galiläas übersetzt haben:
Der Geist des Herrn ruht auf mir;
denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine
gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den
Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein
Gnadenjahr des Herrn ausrufe. Dann schloß er das Buch, gab es dem
Synagogenvorsteher und setzte sich.
Alle
kennen ihn, gespannte Erwartung breitet sich aus:
Die Augen aller in der Synagoge waren
auf ihn gerichtet. »Die Stelle bezieht sich beim Propheten auf den
Gottesknecht, der sich von Gott bevollmächtigt und beauftragt (>gesalbt<) weiß,
>ein göttliches Gnadenjahr< (so der hebräische Text) anzukündigen, eine
Frohbotschaft für alle Armen, Verfolgten und Leidenden zu verkündigen. Der
Ausdruck und Begriff >Evangelium< hat hier seine Grundlage.«3 Doch bezog die
rabbinische Textauslegung diese Stelle nicht auf den Messias, sondern auf den
Propheten selbst. Darum mußte der Anspruch, der in Jesu Worten lag, den Zuhörern
neu, ja unerhört klingen: Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört
habt,
Jesus beginnt, die Schätze zu enthüllen, die verborgen in der religiösen
Tradition Israels bereit lagen. »Er vollzieht im Rahmen ein und derselben
göttlichen Offenbarung den Übergang vom Alten zum Neuen, nicht indem er das
Gesetz aufhob, sondern es vielmehr erfüllte (vgl.
Mt 5,17).«4 jetzt ist
der Augenblick gekommen, wie wir im Hebräerbrief lesen: Viele Male und auf
vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern gesprochen durch die Propheten; in
dieser Endzeit aber hat er zu uns gesprochen durch den Sohn.5
Gott...,
der voll Erbarmen ist (Eph
2,4) wurde uns von Jesus Christus als Vater geoffenbart: sein Sohn selbst hat
ihn uns in sich kundgetan und kennengelehrt.«6 Mit diesen Worten beginnt die
Enzyklika Dives in misericordia. In ihr äußert Papst Johannes Paul II. den
Wunsch, sich nach Redemptor hominis »noch einmal in das Geheimnis Christi zu
versenken, um in ihm das Antlitz des Vaters zu entdecken, der der >Vater des
Erbarmens und der Gott allen Trostes< (2
Kor 1,3) ist.«7
Die Worte
des Herrn in der Synagoge von Nazaret »sind bei Lukas Jesu erste
Messias-Offenbarung, der dann die Taten und Worte folgen, die wir aus dem
Evangelium kennen. Durch diese Taten und Worte macht Christus den Vater unter
den Menschen gegenwärtig.«8
Gott
erbarmt sich der Menschen, besonders jener, die im Elend der Sünde stecken. Kaum
eine andere Wahrheit wird in der Heiligen Schrift so eindringlich verkündet wie
diese. Sie lehrt mit vielen Begriffen und Bildern, daß die Barmherzigkeit Gottes
unendlich ist, alle Menschen und Völker umfaßt und weder auf einen Ort noch
einen Raum beschränkt ist:
ewig währt seine Huld, von Geschlecht
zu Geschlecht seine Treue9.
Durch die
Menschwerdung wird Gottes »>unsichtbare Wirklichkeit< auf besondere Weise
>sichtbar< in unvergleichlich höherem Maß als durch all seine anderen >Werke<:
sie wird sichtbar in Christus und durch Christus, durch seine Taten und seine
Worte und schließlich durch seinen Kreuzestod und seine Auferstehung.«12 Der
Menschensohn - gütig und von Herzen demütig13 - kommt, um uns als barmherziger
und treuer Hoherpriester` mitjenem zu versöhnen, der voll Erbarmen und Mitleid"
ist. In seiner Nachfolge können die Menschen untereinander versöhnt leben.
= 10 Der
Menschensohn - gütig und von Herzen demütig11 - kommt, um uns als barmherziger
und treuer Hoherpriester12 mit jenem zu versöhnen, der voll Erbarmen und
Mitleid13 ist. In seiner Nachfolge können die Menschen untereinander versöhnt
leben. Gott, der
uns in seinem großen Erbarmen neu
geboren14
hat, wird nicht müde, uns immer wieder zu vergeben und auf unserem Weg zu
ermutigen. Dieser Weg ist mühsam, wir gehen ihn beladen mit unseren
Erbärmlichkeiten, von Nöten und Gefahren bedrängt, aber in der Nachfolge
Christi: »In Christus offenbart, erlaubt uns die Wahrheit über Gott, den >Vater
des Erbarmens< (2
Kor 1,3), ihn dem Menschen besonders nahe zu >sehen<, und zwar vor
allem dann, wenn der Mensch leidet, wenn er im Kern seiner Existenz und seiner
Würde bedroht ist ist.«15 Das Evangelium berichtet, wie gerade leidende,
bedrängte, bedrohte Menschen am lautesten zu Jesus rufen, so die Aussätzigen und
Blinden: Hab Erbarmen mit uns.16
Die Güte
des Herrn uns gegenüber übersteigt alle menschlichen Maßstäbe. Als er die
Geschichte vom barmherzigen Samariter17
erzählte, gab er nicht nur eine Antwort auf die Frage des Gesetzeslehrers:
Und wer ist mein
Nächster? In der Fürsorge des Samariters um den Mann, der von
Räubern überfallen worden war und halbtot am Wege lag, charakterisierte er auch
sich selbst. Er ist unser barmherziger Samariter, er salbt und heilt unsere
Wunden mit Öl - nicht nur einmal, sondern immer wieder. Besonders in den
Sakramenten erfahren wir seine Barmherzigkeit. Wir gehen wie die Kranken, die
Blinden und die Gelähmten zu ihm, der im Tabernakel unter uns weilt, und bitten
ihn: Hab
Erbarmen mit mir. In ihm »kann jeder Mensch auf einzigartige Weise
das Erbarmen erfahren, das heißt die Liebe, die mächtiger ist als die Sünde«18.
Jedesmal, wenn wir uns zu Gott bekehren, erfahren wir neu sein Erbarmen.
III. Gott
will, daß wir uns von seinem Erbarmen anstecken lassen:
19
Seine unendliche Barmherzigkeit erreicht uns in dem Maße, in dem wir gegenüber
dem Nächsten Barmherzigkeit üben:
Nach dem Maß, mit dem ihr meßt und
zuteilt, wird euch zugeteilt werden.20
»Der Mensch hat Zugang zur erbarmenden Liebe Gottes, zu seinem Erbarmen, im Maß
und insofern er sich selbst innerlich von diesem Geist der Liebe zum Nächsten
umwandeln läßt.«21 Wenn das Herz sich gegenüber Elend und Not des Nächsten
verhärtet, wird das Tor, das die göttliche Barmherzigkeit uns öffnet, enger.
Unsere
Zeit ist hochsensibel geworden für das Thema Gerechtigkeit, aber nicht selten
möchte man sie von der Barmherzigkeit trennen, weil man in ihr einen einseitigen
Akt sieht, der zwischen dem Gebenden und dem Empfangenden einen Abstand
entstehen läßt. Daraus »ergibt sich die Anmaßung, die zwischenmenschlichen und
sozialen Beziehungen vom Erbarmen zu befreien und ausschließlich auf die
Gerechtigkeit zu gründen. Solchem Denken über das Erbarmen entgeht das
fundamentale Band zwischen Erbarmen und Gerechtigkeit, von dem die ganze
biblische Tradition und noch mehr die messianische Sendung Jesu Christi spricht.
Das echte Erbarmen ist sozusagen die tiefste Quelle der Gerechtigkeit. Ist es
der letzteren gegeben, zwischen den Menschen nach Gebühr >Recht zu sprechen<,
wenn sie die Sachgüter verteilen und tauschen, so ist die Liebe und nur die
Liebe (auch jene gütige Liebe, die wir als >Erbarmen< bezeichnen) fähig, den
Menschen sich selbst zurückzugeben.«22 Gerechtigkeit allein genügt nicht, weder
im Familienleben noch im Miteinander eines Unternehmens. Natürlich setzt die
Ubung der Barmherzigkeit Gerechtigkeit voraus, aber »durch das bloße Berechnen
dessen, was zusteht, wird das gemeinsame Leben notwendigerweise unmenschlich«23.
Der erbarmende Blick über die Gerechtigkeit hinaus eröffnet uns ganz neue
Möglichkeiten des Miteinander. Er macht uns geneigt zur Vergebung, und manchmal
entdekken wir, daß eine vermeintliche Beleidigung nur eingebildet war oder Folge
unserer mangelnden Demut; wir stehen dem bei, der aus Zeitmangel oder Müdigkeit
mit seiner Arbeit nicht zurechtkommt; wir erspüren im ernsten Gesicht eine
bedrückende Sorge und suchen nach einem Wort der Anteilnahme; wir sind bereit,
jemandem aus einem Engpaß zu helfen...
Selbst
wenn sich einmal der Traum von einer vollkommen gerechten Welt verwirklichen
würde, wäre die Barmherzigkeit nötig. »Die geschichtliche Welt ist nicht so
gebaut, daß durch Wiedererstattung und Bezahlung der Schuldigkeit das
Gleichgewicht völlig hergestellt werden könnte. (...) Es gibt Schuldigkeiten, zu
deren Natur es gehört, daß sie nicht völlig abgeleistet werden können, wie sehr
auch der Schuldner dazu gewillt sein mag. Und wenn Gerechtigkeit soviel bedeutet
wie: das Zustehende geben,
debitum reddere - dann
gibt es Schuldverhältnisse, in denen die Gerechtigkeit niemals verwirklicht
werden kann. Es sind nun aber gerade die das menschliche Dasein von Grund auf
bestimmenden Beziehungen, denen solche Unstimmigkeit eigentümlich ist.«24
Das
Erbarmen braucht »als grundlegende Struktur immer die Gerechtigkeit. Aber es hat
die Kraft, der Gerechtigkeit einen neuen Inhalt zu geben«25; denn während die
Gerechtigkeit auf den Bereich der Sachgüter zielt, bringen Liebe und Erbarmen
die Menschen dazu, »einander in dem Wert zu begegnen, den der Mensch selbst in
der ihm eigenen Würde darstellt«26. Wenn jemand eine Schuld über das Geschuldete
hinaus begleicht, hat er nicht nur der Gerechtigkeit genüge getan, sondern auch
auf eine sehr menschliche Art seinen Dank geaußert. Im Alltag finden wir oft
Gelegenheiten dazu. »Die Welt der Menschen kann nur dann >immer menschlicher<
werden, wenn wir in allen gegenseitigen Beziehungen, die ihr geistiges Antlitz
prägen, das Element des Verzeihens einbringen, welches für das Evangelium so
wesentlich ist. Das Verzeihen bezeugt, daß in der Welt eine Liebe gegenwärtig
ist, die stärker ist als die Sünde. Es ist darüber hinaus die Grundbedingung für
die Versöhnung, nicht nur in den Beziehungen zwischen Gott und dem Menschen,
sondern auch in den gegenseitigen Beziehungen zwischen den Menschen. Eine Welt
ohne Verzeihen wäre eine Welt kalter und ehrfurchtsloser Gerechtigkeit, in deren
Namen jeder dem anderen gegenüber nur seine Rechte einfordert.«27
In Maria
triumphiert die Macht des Erbarmens Gottes mit den Menschen. Nehmen wir unsere
Zuflucht zu ihr, die Gottes Erbarmen
28
verkündet.
Lk
4,16-30. -
2 M.-J. Lagrange,
Das
Evangelium von Jesus Christus, Heidelberg 1949, S.125. -
3
Regensburger Neues Testament, Bd.3, Regensburg 1955, S.112. -
4
Johannes Paul II.,
Katechese, 4.2.1987. -
5
Hebr
1,1. -
6 Johannes Paul II.,
Enz.
Dives in misericordia, 1. -
7 ebd. -
8
ebd., 3. -
9
Ps
100,5. -
10 Johannes Paul II.,
a.a.O., 2. -
11
Mt
11,28. -
12
Hebr
2,17. -
13
Jak
5,11. -
14
1 Petr
1,3. -
15 Johannes Paul II.,
a.a.O., 2. -
16
Mt
9,27; 14,20; 15,22; 20,30;
Mk 10,47;
Lk
17,13. -
17
Lk
10,25-37. -
18 Johannes Paul II.,
a.a.O., 13. -
19
Mt
5,7. -
20
Mt
7,2. -
21 Johannes Paul II.,
a.a.O., 14. -
22 ebd. -
23
J. Pieper,
Über die Gerechtigkeit,
München 1965, S.132. -
24 ebd., S.119. -
25
ebd. -
26 Johannes Paul II.,
a.a.O., 14. -
27 ebd. -
28
Lk
1,50.