OSTERZEIT
4. WOCHE - FREITAG
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WIE DAS
EVANGELIUM LESEN?
Das
Evangelium: Begegnung mit dem geoffenbarten Mysterium Gottes.
Das Leben Christi im Kopf und im Herzen tragen.
Sich ins Evangelium hineinversetzen, den Heiligen Geist wirken lassen.
I. Wir
nennen die Überlieferung dessen, was sich mit der Menschwerdung des Sohnes
Gottes unter uns
ereignet und erfüllt hat1,
Evangelium, Frohe Botschaft. Nach dem Sinn unseres Lebens fragend, finden wir
dort die sichere Antwort, denn sie kommt von dem, der
2
ist. Das Evangelium als »Hauptzeugnis für Leben und Lehre des fleischgewordenen
Wortes, unseres Erlösers«3, gibt uns nicht lediglich historische Auskunft,
sondern bedeutet - mit Worten des heiligen Paulus4
- die Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn, (die) alles übertrifft. Der in ihm
begründete christliche Glaube ist »= 3, gibt uns nicht lediglich historische
Auskunft, sondern bedeutet - mit Worten des heiligen Paulus - die Erkenntnis
Christi Jesu, meines Herrn, (die) alles übertrifft4. Der in ihm begründete
christliche Glaube ist nicht etwa eine Weltanschauung mit religiösem
Hintergrund, auch nicht ein religiöses oder theologisches Lehrsystem oder
Moralgesetz, sondern es ist Mysterium im paulinischen Sinn, das heißt eine
Offenbarung Gottes an die Menschheit durch gottmenschliche Taten, voll Leben und
Kraft.«5
Deshalb
reichen weder ein allgemeines Bescheidwissen als Bestandteil menschlicher
Allgemeinbildung noch auch eine tiefergehende Kenntnis durch bloßes Nachdenken
aus. »Das Leben Jesu muß sich in unserem eigenen Leben wiederholen, indem wir
Christus kennenlernen: durch Lesen und immer wieder Lesen, durch Meditieren und
immer wieder Meditieren der Heiligen Schrift.«6 Nötig ist eine Kenntnis, die wir
engagiert nennen könnten, weil es ihr um das Ganze des Lebens geht: »Es genügt
nicht, ein allgemeines Bild von Christus zu haben, wir müssen vielmehr aus
seiner Haltung und seinen Reaktionen lernen. Und vor allem müssen wir seinen
Erdenwandel betrachten und seinen Spuren nachgehen, um Kraft, Licht,
Gelassenheit und Frieden daraus zu schöpfen.
Wenn man
einen Menschen liebt, möchte man alles, selbst die kleinsten Details über ihn
wissen, um sich mit ihm identifizieren zu können. Darum müssen wir die
Lebensgeschichte Jesu betrachten, von der Geburt in einer Krippe bis zu seinem
Tod und seiner Auferstehung.«7
In den
vier Evangelien verdichtet sich die gesamte Heilige Schrift, denn alles im Alten
Testament war auf ihn - auf Christus - hingeordnet, und alle anderen Bücher im
Neuen Testament gehen von ihm - von Christus - aus. Besonders von den Evangelien
gilt, was in der Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils über die
göttliche Offenbarung steht: »In den Heiligen Büchern kommt ja der Vater, der im
Himmel ist, seinen Kindern in Liebe entgegen und nimmt mit ihnen das Gespräch
auf«8 Die Lektüre des Evangeliums, die »Seelenspeise und reiner, unversiegelter
Quell des geistlichen Lebens«9 ist, soll deshalb eine liebende, betende Lektüre
sein, wie es einem Werk entspricht, dessen Urheber Gott ist.
Das
betende Betrachten des Evangeliums erfordert Glauben, denn da spricht die reine
Wahrheit zu uns, und Ehrfurcht, denn es ist Gottes Wort, sowie ein Gespür für
das Heilige, denn es sind Worte des Heils. Unter dem Beistand des Heiligen
Geistes hat die Kirche den Schatz des Lebens Christi auf Erden unversehrt durch
die Jahrhunderte weitergegeben, damit wir darin den Weg zur Heiligkeit finden.
In dem Maße, in dem der Wunsch nach Gemeinschaft mit Gott in uns wächst,
erschließt sich uns das Evangelium. Fragen wir uns also: Sind wir bestrebt, Tag
für Tag tiefer in das Geheimnis der Menschwerdung unseres Herrn einzudringen?
Bitten wir den Heiligen Geist vor der Lektüre des heiligen Buches um das Feuer
seiner Liebe?
II.
Lieben kann man nur, was man gut kennt. Deshalb ist es nötig, das Leben Christi
»ganz im Kopf und im Herzen zu tragen, damit wir es in jedem Augenblick ohne
Hilfe eines Buches mit geschlossenen Augen vor unserem inneren Blick wie einen
Film vorbeiziehen lassen können. Die Worte und Taten des Herrn werden uns auf
diese Weise in den verschiedenen Situationen unseres Lebens begleiten.
So werden
wir sein Leben mitleben. Denn es geht nicht nur darum, an Jesus zu denken, uns
diese oder jene Szene zu vergegenwärtigen. Wir müssen uns vielmehr in sie
hineinversetzen, und als Teilnehmer des Geschehens werden wir dann Christus so
nahe folgen wie Maria, seine Mutter, wie die ersten Zwölf, wie die frommen
Frauen und die Menge, die ihn umdrängte. Wenn wir so handeln und Christus keine
Hindernisse in den Weg legen, werden uns seine Worte bis ins Innerste
durchdringen und umwandeln.«10
Wir
schlagen das Evangelium mit dem Wunsch auf, Christus sehr aufmerksam, wie seine
Jünger damals, zu betrachten: wie er in dieser oder jener Situation reagierte,
warum er mit diesem Menschen so und mit jenem anderen anders sprach, wie er sich
der Bedürftigen und Notleidenden erbarmte, wie er sich nach langer Wanderung
müde fühlte und unter Freunden Erholung suchte, wie er den Glauben einfacher
Menschen pries, wie er geduldig die Schwerfälligkeiten seiner Jünger ertrug. Und
immer wieder werden wir beobachten, wie er tagsüber und nächtelang das Gespräch
mit dem Vater sucht, dankend, vertrauend, bittend. Wir lernen so den Umgang mit
Gott und mit den Menschen und entdecken in den Bildern des Evangeliums uns
selbst: als Arbeiter im Weinberg und als Knechte auf dem Acker des Herrn, als
Hirten, Bauern und Stadtmenschen, denn das alles sind wir in den Gleichnissen.
Wir lernen Umgang mit der Schönheit der Natur, den Vögeln am Himmel und den
Blumen auf dem Feld, mit den Dingen des Alltags, mit Arbeit, mit Leid. Vor allem
aber lernen wir beten. Deswegen ermahnt das Zweite Vatikanische Konzil alle an
Christus Glaubenden, »besonders eindringlich, durch das häufige Lesen der
Heiligen Schrift sich das >alles übertreffende Wissen Jesu Christi< (Phil
3,8) anzueignen. >Die Schrift nicht kennen heißt Christus nicht kennen<
(Hieronymus). Sie sollen deshalb gern an den heiligen Text selbst herantreten,
einmal in der mit göttlichen Worten gesättigten heiligen Liturgie, dann in
frommer Lesung.«11
»Laß uns
aus deiner Kraft leben und unter deinem beständigen Schutz geborgen sein«12,
erbitten wir heute vom Herrn im Tagesgebet der heiligen Messe. So schwer ist das
nicht: »Ich habe dir geraten, jeden Tag einige Minuten im Neuen Testament zu
lesen und dich, gleichsam selbst beteiligt, in jede der einzelnen Szenen
hineinzuversetzen. Auf diese Weise kannst du das Evangelium in deinem Leben
sozusagen >Fleisch und Blut< werden lassen, kannst es erfüllen und auch andere
dahin bringen, es zu erfüllen.«13
III.
Viele
Male und auf vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern gesprochen durch die
Propheten; in dieser Endzeit hat er zu uns gesprochen durch den Sohn.
Seitdem der Sohn
gesprochen
hat, steht jede Stunde der Menschheitsgeschichte im Zeichen der
,
der Vollendung - auch jede Stunde meines Lebens. Das ist der Kern der
Frohen
Botschaft.
Das Wort des Sohnes bleibt Stunde für Stunde brandaktuell:
lebendig
(...) kraftvoll und schärfer als jedes zweischneidige Schwert.
Es gilt allgemein, ohne deshalb abstrakt zu sein, denn es richtet sich an jeden
einzelnen:
es dringt
durch bis zur Scheidung von Seele und Geist, von Gelenk und Mark.
Es offenbart uns als
wahres
Licht, das jeden Menschen erleuchtet,
Sinn und Wert unseres Lebens und richtet
über die Regungen und Gedanken des Herzens.
Manchmal
werden wir uns in einer der Gestalten des Evangeliums wiederfinden, im
verlorenen Sohn, der traurig-froh zum Vater heimkehrt, oder im verirrten Schaf,
dem die Sorge des Hirten gilt. Manchmal wird uns ein Wort oder eine Begebenheit
besonders ansprechen, die uns dann zu einem den Tag prägenden Stoßgebet des
Dankes, der Bitte oder der Reue inspirieren. Vor allem aber liefert das
Evangelium den Stoff für unsere festen Gebetszeiten, die ja so nötig sind, will
man ein kontemplatives Leben mitten in der Welt führen. »Jeder Gläubige kann und
muß aus den verschiedenen Formen und dem Reichtum des christlichen Gebetes, wie
es die Kirche lehrt, seinen eigenen Weg und seine eigene Gebetsmethode
herausfinden; doch fließen alle diese persönlichen Wege am Ende in jenen
Weg zum Vater
zusammen, als der sich Jesus Christus bezeichnet hat. Beim Suchen nach dem
eigenen Weg soll sich der einzelne daher nicht so sehr von seinem persönlichen
Geschmack als vielmehr vom Heiligen Geist leiten lassen, der ihn durch Christus
zum Vater führt.«19
Die
Betrachtung des Evangeliums unseres Herrn führt uns in das Mysterium seines
Lebens. Es ist besonders wichtig, sein Leben als Geheimnis der Liebe Gottes zu
sehen, reich und nie auszuloten, aber nicht willkürlich interpretierbar: »Die
Liebe Gottes, einziger Gegenstand der christlichen Kontemplation, ist eine
Wirklichkeit, deren man sich mit keiner Methode oder Technik >bemächtigen< kann;
ja, wir müssen den Blick immer auf Jesus Christus gerichtet halten, in dem die
göttliche Liebe für uns am Kreuz so weit gegangen ist, daß sie auch die
Gottverlassenheit auf sich genommen hat (vgl.
Mk 15,34). Wir müssen
also Gott die Entscheidung darüber überlassen, wie er uns an seiner Liebe
teilhaben lassen will. Wir dürfen aber nie irgendwie versuchen, uns mit dem
betrachteten Gegenstand, der freien Liebe Gottes, auf eine Stufe zu stellen;
auch dann nicht, wenn uns durch die Barmherzigkeit Gottes des Vaters, durch den
in unsere Herzen gesandten Heiligen Geist in Christus aus Gnade ein spürbarer
Widerschein dieser göttlichen Liebe geschenkt wird und wir uns von der Wahrheit,
Güte und Schönheit des Herrn gleichsam angezogen fühlen.«20
Wir
überlassen es Gott, wie er durch die Lektüre des Evangeliums auf unser Leben
einwirken will. Aber wir können dieses Wirken vorbereiten und erleichtern, indem
wir nach einem besonders passenden Augenblick für die tägliche Lektüre suchen.
Die kurze Lektüre bereits am Morgen kann uns eine konkrete, einfache Anregung
für den beginnenden Tag mit auf den Weg geben, die so unsere Gottesgegenwart,
unseren Umgang mit den Menschen, unsere Arbeit oder unsere Stimmung grundiert.
Schritt für Schritt können die Worte des seligen Josemaría Escrivá im »Weg« in
uns Gestalt annehmen: »Wären doch dein Verhalten und deine Worte so, daß jeder,
der dich sieht oder mit dir spricht, unwillkürlich dächte: Der da beschäftigt
sich mit dem Leben Jesu.«21
vgl.
1,1. -
14,6. -
II.Vat.Konz., Konst.
Dei
Verbum,
18. -
3,8. -
Odo Casel,
Das
christliche Kultmysterium,
Regensburg 1932, S.25. -
J.Escrivá,
Christus
begegnen,
14. -
ebd., 107. -
II.Vat.Konz., Konst.
Dei
Verbum,
21. -
ebd. -
J.Escrivá,
Christus
begegnen,
107. -
II.Vat.Konz., a.a.O., 25. -
Tagesgebet.
-
J.Escrivá,
Die Spur
des Sämanns,
Nr.672. -
1,1. -
4,12. -
ebd. -
1,9. -
4,12. -
Kongregation für die Glaubenslehre,
Schreiben
an die Bischöfe der katholischen Kirche über einige Aspekte der christlichen
Meditation,
15.10.1989, 29. -
Kongregation für die Glaubenslehre, a.a.O., 31. -
J.Escrivá,
,
Nr.2.